Missing Link: Über Digitalisierung des Gesundheitswesens und den Pandemie-Herbst

Seite 4: "Einer entwickelt, alle profitieren"

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Sie beklagen insgesamt einen fehlenden Austausch zwischen Ämtern auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene über digitale Lösungen und fordern Open-Source- und Open-Data-Strategien ("Public Money, Public Code"). Wenn Steuergelder im Spiel sind, sollen eigene Entwicklungen demnach für die gesamte öffentliche Verwaltung frei und wiederverwendbar sein. Haben Sie schon Feedback dazu erhalten?

Wir haben hierzu eine hohe Zustimmung der Gesundheitsämter und daher hat sich eine Community gebildet, die sich nur mit "Open Digitalization" beschäftigt. Bei den Mitarbeitenden der Gesundheitsämter ist der Wunsch groß, mit Open-Source-Anwendungen zu arbeiten und dadurch eine nachhaltige, für Änderungen offene und beschleunigte Digitalisierung herbeizuführen. Sowohl von den Landesstellen als auch von den Ministerien haben wir aber eher den Eindruck, dass diese nicht an Open-Source-Lösungen interessiert sind und eher auf ihre etablierten Vertragspartner setzen. Vermutlich liegt es daran, dass sie sonst die eigenen Prozesse anpassen und verändern sowie die Komfortzone verlassen müssten.

Ihr Vorschlag umfasst auch den Aufbau einer Open-Source-Plattform für den ÖGD. Wie könnte die Kooperation darüber ablaufen und welche Anwendungen sollen darüber vorangetrieben werden? Gibt es dazu bereits Rückmeldungen?

Die Kooperation könnte durch Open-Source-Communities durchgeführt und organisiert werden. Im ersten Schritt sind wir bestrebt, uns auf eine einheitliche Plattform zu einigen. Im weiteren Schritte muss der Ist- und Soll-Zustand erfasst werden. Aus dem Soll-Zustand werden Bedürfnisse abgeleitet und in Projekten aufgeteilt. Diese werden in der Community abgesprochen und verteilt, damit Lösungen nicht doppelt entwickelt werden. Am Ende sollen die gefundenen Ansätze auf der Plattform abgebildet und für alle Teilnehmer zur Verfügung gestellt werden: Einer entwickelt, alle profitieren.

Welche Herausforderungen bestehen in einem Gesundheitsamt in einem klassischen "Multi-Kulti-Bezirk" beim Kampf gegen eine Pandemie? Wie lässt sich die Bevölkerung etwa für eine Impfkampagne gewinnen? Wie hoch schätzen sie die Covid-19-Impfquote vor Ort ein?

Ach, Neukölln ist nicht wirklich spezieller als andere Stadt- oder Landkreise. Oder doch? Sehen Sie, das sind die offenen Fragen, die sich durch digitale Anwendungen beantworten ließen, wenn wir unsere Gesundheitsdaten denn auswerten könnten. So bleiben die Zuschreibungen nur Plattitüden, Imagebilder: schön, aber letztlich unscharf und nicht evidenzbelegt.

Wir waren auf einem guten Weg, unsere Lektionen zu lernen, und die sind sehr deutlich in der Pandemie herausgearbeitet worden: Wir müssen raus zu den Menschen, aufsuchend unsere Arbeit vor Ort anbieten. Gesundheitskommunikation mit zielgruppengerechter und mehrsprachiger Ansprache auf allen Kanälen ist nötig: Die einen brauchen den Vereinsort, die anderen Instagram, andere wieder nur TikTok, Facebook oder analog. Entscheidend sind niederschwellige Impfangebote und Gesundheitsberatungen, sprachsensibel, kultursensibel, kleinteilig. In einer divergierenden Gesellschaft mit immer kleinteiligeren Rückzugsräumen kann chancengleiche Gesundheit einen sozialen Kit bilden. Nicht den Quatsch mit den Impfbussen als Werbeveranstaltung, sondern auf Augenhöhe bei den Menschen.

Und ganz wichtig: Die schlagkräftige "Task Force Infektionsschutz", die wir entwickelt haben, müsste verstetigt werden. Die Grundmuster aller Krisen sind gleich. Die der Bewältigung sind es auch. Deswegen müssen wir diese Einheiten halten und weiter entwickeln.

Welche Lage erwarten sie im sich abzeichnenden neuen Corona-Herbst, der durch die Ukraine-Krise und Affenpocken zusätzlich angeheizt werden dürfte? Könnten die Maßnahmen wieder bis zu Lockdowns gehen?

Corona-Herbst? Wir rasen gerade durch den Corona-Sommer mit den BA.4- und BA.5-Varianten! Die sechste Welle ist gerade in vollem Gange. Und das bei weniger Testungen und einer weitaus höheren Dunkelziffer. Die Konzepte, um vorbereitet zu sein, liegen auf dem Tisch. Affenpocken sind das geringste Problem. Die Politik muss sich jetzt entscheiden: Will sie die Gesundheitsämter personell weiter unterstützen, die Pandemiestäbe ertüchtigen, Geflüchtete versorgt und nebenbei andere Ausbruchsgeschehen eingedämmt sehen? Aus dem, was wir gelernt haben, brauchen wir keinen Lockdown, wenn wir Zielgruppen-spezifisch arbeiten, wenn Gesundheitsämter impfen, testen und die Gesundheitskommunikation selbst übernehmen, wenn wir personell gut aufgestellt sind. Das kostet, aber alles andere kostet noch viel mehr.

(bme)