Missing Link: Über Digitalisierung des Gesundheitswesens und den Pandemie-Herbst

Seite 2: Entscheidungsträgern fehlt es an Digitalisierungskompetenzen

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heise online: Wie digital sind ihres Wissens nach die anderen Gesundheitsämter Berlins beziehungsweise Deutschlands? Funktionieren das Zusammenspiel und das Meldewesen endlich?

Nicolai Savaskan: Bei allen Berliner Gesundheitsämtern besteht eine Digitalisierungslücke. Es gibt ein paar Leuchttürme in der Bundesrepublik, da wären Frankfurt, Dortmund oder Friedrichshafen zu nennen. Die haben sich von der vorgesetzten Meldesoftware konsequent emanzipiert. Bei den Beratungsgesprächen zur Verwendung der Förderanträge im Rahmen des Pakts für die Digitalisierung des ÖGD wurde deutlich, dass das Verständnis über die Thematik variiert. Während also in bestimmten Gesundheitsämtern Mitarbeiter eigene Skript-Lösungen entwickelten, gibt es andere, deren Ansprechpartner für Digitalisierung das Wort Schnittstelle erst googeln mussten.

Aber wen wundert es, wenn eben diesen Mitarbeitenden jahrzehntelang etwas vorgesetzt wurde und sie selbst null im IT-Bereich beteiligt waren. Der Großteil der Gesundheitsämter ist mit der Thematik überfordert. Den Landesstellen und Ministerien geht es nicht anders. Die sind ja noch weiter von der Anwenderebene entfernt. Den meisten Entscheidungsträgern – mich eingeschlossen – fehlt es selbst an fortgeschrittenen Digitalisierungskompetenzen.

Sind die Ämter für die x-te Coronawelle mittlerweile besser gerüstet?

Was die kommende sechste oder siebte Welle betrifft: Die Gesundheitsämter sind weiterhin mit Interimslösungen ausgestattet, nur bricht unser Personal gerade weg aufgrund fehlender Finanzierung. Politisch scheint die Pandemie im Moment gar nicht zu existieren. Allerdings ist die damit verknüpfte Arbeit vornehmlich ein "People’s Business": Egal wie digital wir sind, bedarf es unbedingt einer ausreichenden Zahl an Mitarbeitenden. Auch das Lernen aus Erfahrungen ist unabdinglich. Wenn jetzt nicht gegengesteuert wird, kommt es sehr hässlich für die Bürger: Kein persönlicher Ansprechpartner, keine Gesundheitskommunikation, keine zielgruppenspezifische Ansprache, keine Vor-Ort-Präsenz, keine aufsuchenden Hilfen. Dabei sind das alles Sachen, die sich die Menschen wünschen und die medizinisch notwendig sind. Wenn wir etwas in der Pandemie gelernt haben, dann das.

Könnte Künstliche Intelligenz (KI) helfen, Mitarbeiter zu entlasten oder zu ersetzen?

Digitalisierung würde weitergedacht tatsächlich in Richtung AI gehen, also KI für Risikoeinschätzungen und Kontaktpersonennachverfolgung. Doch davon sind wir noch Planeten-weit und einige Beschäftigtengenerationen entfernt.

Wie weit ist die Digitalisierung des von ihnen bis vor wenigen Tagen geleiteten Gesundheitsamts Neukölln (GANK) nach zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie gekommen? Welche Aspekte zählen dazu jenseits der Versorgung der Mitarbeiter mit Endgeräten wie Smartphones?

Die Pandemie hat eins beschleunigt: Wir haben an der Basis im Amt ein gemeinsames Zielbild geschaffen, eine Vision. Dadurch haben wir ein Konzept entwickelt, bei dem Mitarbeitende Digitalisierung bottom-up gestalten können. Ziel war es, im Gesundheitsamt genauso digitalisiert zu arbeiten, wie es uns im privaten Leben tagtäglich möglich ist: web-basierte Kontaktformulare, Präsenz auf Social-Media, mobil mit offenen Schnittstellen. Und die Beschäftigten sind digital deutlich befähigter und gewillter, als es uns das Umfeld ermöglicht.

Wie waren die Voraussetzungen zum Start der Pandemie?

Ausgangsbasis war, dass wir ein reines Meldewesen nach oben als digitale Lösung hatten. Damit wird auch das Selbstverständnis von Gesundheitsämtern schwer beschnitten, das darf mensch nicht unterschätzen! So eine Beschneidung wirkt sich auf die Beschäftigten massiv aus, das macht was mit den Leuten über Jahre. Und trotzdem: Die Bereitschaft für den Wandel ist da, die Belgschaft hat durch die Pandemie ihre Wirksamkeit für die Bürger und für sich wirklich neu entdeckt. Die sind heiß, die sind bereit, dass jetzt was in den Gesundheitsämtern passiert.

Denn die Beschäftigten wissen, dass die Daten der 383 Gesundheitsämter in Deutschland sehr viel tiefergehend, also räumlich-zeitlich hochauflösender sind, als das, was das RKI dann veröffentlicht und als Grundlage zur politischen Entscheidungsfindung genutzt wird. Nur haben wir bisher keine passenden digitalen Auswerttools bekommen und das System ist geschlossen, voller Medienbrüche.

Die Mängel sind nach wie vor groß?

Es gibt noch immer keine einheitliche Schnittstelle und kompatible Software-Landschaft. Die eingesetzten Programme sind funktionsschwach, können weder horizontal noch vertikal kommunizieren. Im Bereich des Infektionsschutzes hat sich allerdings durch Sormas und bestimmte angedockter Module viel entwickelt: neben dem Melden nach oben können wir jetzt horizontal einigermaßen medienbruchfrei kommunizieren.

Anders sieht es in dem wichtigen Bereich des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes oder in unserem Sozialpsychiatrischen Dienst aus: Ohne Stift und Zettel könnten wir hier nicht arbeiten. Und mobile Technik – also digital unterwegs sein bei den Menschen – ist noch gar nicht denkbar. Wir haben hier eine Lücke – nein, das ist euphemistisch – wir haben einen Grand Canyon zwischen dem, was unsere Mitarbeitenden können und wollen, und dem, wie wir uns mit der vorgesetzten Technik und Software selbstwirksam erfahren beziehungsweise eben nicht erfahren. Und dieser Grand Canyon wird durch den Digitalpakt für den ÖGD nicht geschlossen.