Immun gegen die Impfung

Seite 2: Evolution im Schnelldurchgang

Inhaltsverzeichnis

Die meisten anderen Infektionen sind wohl nur bedingt für Impfungen geeignet. Denn die Erreger verfügen über ein breites Repertoire an Strategien, mit denen sie die Front aus Antikörpern unterlaufen und so den eigentlich schon immunisierten Wirt ein weiteres Mal anfallen können. Vom Grippevirus ist die Strategie bekannt: Es verändert immer wieder seine Außenansicht, damit es die Antikörper nicht aufspüren können. Andere lenken das Immunsystem ab: Es gibt zum Beispiel Bakterien, die gezielt die Kommunikation der Immunzellen stören. Manche Viren tragen Ablenkungsmoleküle auf ihrer Oberfläche.

"Wir haben kein generelles Problem mit Impfungen", betont Read. "Wir haben ein Problem bei den Erregern, die mit dem Immunsystem interagieren können." Denn für sie ist es ganz naheliegend, auf diesen Weg zu setzen, wenn alle anderen verbaut sind. Der Wissenschaftler sammelt solche Beispiele: "Es gibt immer mehr Erreger, die auf die Impfungen mit Anpassungen reagieren", sagt er. Auch Standardimpfungen für Menschen sind betroffen: Hepatitis-B-Viren und Pneumokokken-Bakterien haben sich seit der Zulassung der Impfungen vor 20 Jahren verändert.

Am Anfang fielen vor allem die veränderten Zelloberflächen auf, mit denen sie sich vor den Impf-Antikörpern tarnten. Inzwischen gibt es auch Fälle, in denen solche getarnten Erreger auch aggressiver sind. Die südostasiatischen Mutanten der Hepatitis-B-Viren, mit denen sich auch Geimpfte anstecken können, verursachen viel häufiger Leberkrebs als altbekannte Varianten. Oder die neuesten Vertreter gegen die Speicheldrüseninfektion Mumps: Gegen sie werden die Kinder seit fast 60 Jahren geimpft. Seit etwa zehn Jahren können einige Viren einerseits den Impfschutz umgehen und sich andererseits gefährlich erfolgreich auf die Hirnhäute ausdehnen.

Auffällig ist: Bei all diesen Impfstoffen entsteht entweder keine dauerhafte oder keine vollständige Immunität. Mal nimmt wie bei Mumps der Impfschutz nach Jahrzehnten plötzlich ab – oder die Impfung verhindert nicht die Ansteckung, sondern unterdrückt nur den Krankheitsausbruch, wie bei der Marekschen Krankheit. Ein besonders beunruhigendes Beispiel ist Keuchhusten. Das Bakterium Bordetella pertussis befällt die Schleimhaut der Atemwege und löst heftigen Husten mit starker Atemnot aus. Das Impfen begann vor fast 80 Jahren, inzwischen sind 82 Prozent aller Menschen geimpft. Trotzdem gibt es jährlich 16 Millionen neue Fälle. Und es sterben vor allem Kinder – rund 200.000 im Jahr.

Bisher galt in der Seuchenforschung als ausgemacht, dass diese Ausbrüche von der Großelterngeneration verursacht wurden. Das schwächer werdende Immunsystem der Senioren zusammen mit einer vielleicht nicht vollständig wirkenden Impfung würde für ein gefährliches Reservoir der Bakterien sorgen. Gesundheitsbehörden wie das Robert Koch-Institut empfahlen deswegen ab 2009 eine zusätzliche Keuchhusten-Impfung im Erwachsenenalter. Trotzdem kam es zu weiteren Ausbrüchen. Teils gingen sie auf veränderte Bakterienvarianten zurück.

So war es auch bei dem bislang größten Ausbruch in Großbritannien 2012. Fast 10.000 Personen erkrankten, eine Epidemie, die 14 Kinder nicht überlebten. Dafür verantwortlich war ein Bakterienstamm, der in seinem Erbgut eine Mutation am sogenannten Pertussis-Toxin-Promoter trug. Schon damals vermuteten Forscher der Universität Bath, dass sich die Bakterien als Reaktion auf die Impfung aufgerüstet hatten: Denn der Promoter reguliert, wie viel sogenanntes Pertussis-Toxin die Bakterien freisetzen. Der Stoff wirkt wie eine molekulare Nebelkerze und hindert Immunzellen daran, den Weg zu den Keuchhustenbakterien zu finden.

Auffallend ist, dass mit diesen neuen und neuartigen Keuchhustenfällen ausgerechnet die gut versorgten Industrieländer zu kämpfen haben. In den Entwicklungsländern Afrikas hingegen hält die Impfung die Krankheit gut unter Kontrolle, trotz hygienischer Probleme. Eine Erklärung wäre Evolution: In der westlichen Welt hatten die Bakterien Jahrzehnte mehr Zeit, Strategien gegen den Impfschutz zu entwickeln.

Für einige Experten hat die Beweiskette jedoch Lücken. "Es gibt zwar Hinweise auf eine Evolution der Bakterien", sagt Pejman Rohani, Populationsbiologe an der Universität von Georgia. "Aber ihre Assoziation mit der Impfung ist alles andere als eindeutig." Rohani ist ein Mann der Zahlen. Er sucht seit 2010 in den Daten der Gesundheitsbehörden, in Impfraten und Krankenregistern nach den Ursachen der neuen Ausbrüche. Seiner Einschätzung nach ist es noch zu früh, um bei Keuchhusten von impfstoffgetriebener Evolution zu sprechen.

"Bisher habe ich keine zwingenden Beweise für Selektion als Ergebnis der Impfung gesehen", meint er. Denn dafür müsse man wissen, ob an den schweren Erkrankungen und Todesfällen tatsächlich Bakterienarten mit veränderten Toxinen beteiligt waren – und das hat noch niemand untersucht. "Mehr Toxin muss nicht mehr Tote heißen", argumentiert der Epidemiologe. "Genauso ist es möglich, dass diese Veränderung nur zu mehr leichten Erkrankungen führt."

Ein Keuchhustenausbruch im US-Bundesstaat Massachusetts bot die Gelegenheit, seine These zu testen. Die Gesundheitsbehörde dort führt besonders sorgfältige Register zu Krankheitsfällen und Impfraten. Für den Zahlenmann Rohani ein Glücksfall. Er brachte diese Daten erstmals mit einer Untersuchung zur Häufigkeit von Generationenkontakten zusammen. Das Resultat seiner Berechnungen war, dass zumindest dieser Bundesstaat wohl eher ein Problem mit dem Impfschema als mit immunschwachen Senioren und wild gewordenen Bakterien hat: Nach den ersten drei Impfungen bis zum ersten Lebensjahr waren die Kleinen vollständig geschützt.

Am Ende der Grundschulzeit nahm dieser Schutz bei einigen Kindern plötzlich wieder ab. Sie konnten diejenigen Säuglinge anstecken, die noch nicht vollständig geimpft waren. "Diese Impflücke hat den Ausbruch verursacht", sagt Rohani. "Sie war uns unbekannt, und man könnte sie mit einer einfachen Auffrischung schließen."

"Nicht zu impfen ist keine Lösung", sagt Read. "Impfungen retten viele Leben. Nur sollten wir aufhören, sie als Wundermittel zu betrachten. Fangen wir endlich an, uns mit der Resistenzlage zu beschäftigen – wie bei den Antibiotika!" Schon lange ist bekannt, dass Bakterien bei der Behandlung mit keimtötenden Medikamenten neue Fähigkeiten entwickeln, mit denen sie den Angriff der giftigen Keule überstehen können. Doch während es hier möglich ist, die Wirkstoffe nur noch sparsam und gezielt einzusetzen, braucht es bei Impfungen eine andere Strategie.

Denn schließlich sind sie die einzig mögliche Vorsorge gegen lebensgefährliche Krankheiten. Nach Reads Meinung sollte man den Erregern durch möglichst hohe Impfraten möglichst viele Wirte und damit die Chance auf Evolution nehmen. Virologe Trimpert plädiert zusätzlich für ein Überwachungssystem, das gezielt nach impfresistenten Stämmen fahndet. "Außerdem sollten wir uns frühzeitig um Reserveimpfstoffe kümmern, damit die schon da sind, wenn es zu neuen Ausbrüchen kommt."