Chinas Atomträume

Keine Nation baut mehr Kernkraftwerke als China. Nun will das Land mit billigen und sichereren Meilern den Weltmarkt erobern. Kann es eine nukleare Renaissance auslösen?

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Von
  • Richard Martin
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Noch ist das dreistöckige Gebäude auf dem Campus des Shanghai Institute of Applied Physics nur eine Hülle. Doch im Unterschied zu Europa wird es hier nicht um Solarmodule, Windkraftanlagen oder neuartige Stromspeicher gehen. Sondern um eine Technologie, die insbesondere in Europa als von gestern gilt – die Kernkraft. Das Gebäude in Lagerhausgröße soll die Chemielabore, die Büros und die Geräte und Prototypen für die Testläufe zum neuen nuklearen Zeitalter beherbergen.

Hier soll ein alter Traum der Kernenergie endlich Wirklichkeit werden: Flüssigsalzreaktoren, bei denen die Kernschmelze bereits konstruktionsbedingt deutlich unwahrscheinlicher ist als bei heutigen Modellen. Zudem sollen sie deutlich billiger sein. Und mit ihnen will China den Weltmarkt erobern.

Gemessen an den Erzeugungskapazitäten ist China schon jetzt eine Großmacht in der Atomenergie. 34 Kernkraftwerke stehen bereits. Nicht weniger als 30 neue konventionelle sollen in den kommenden Jahren hinzukommen. Deutlich interessanter aber ist, was darüber hinaus passiert: In den vergangenen fünf Jahren hat die chinesische Regierung bereits rund zwei Milliarden Renminbi (275 Millionen Euro) in die Forschung und Entwicklung von Flüssigsalzreaktoren investiert. In wenigen Jahren wollen die Forscher einen ersten experimentellen Meiler bauen. Innerhalb von 15 Jahren soll dann das weltweit erste kommerzielle Flüssigsalzkraftwerk laufen.

China erhöht also nicht nur die Erzeugungskapazitäten. Die Regierung will in den nächsten zwei Jahrzehnten die größte Nuklearindustrie der Welt aufbauen und zum führenden Anbieter von Kernreaktoren und Komponenten aufsteigen. Steht die Welt damit vor einer nuklearen Renaissance?

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Der Klimawandel würde sie dazu zwingen, lautet zumindest die Einschätzung der Internationalen Energieagentur IEA. Ihr zufolge muss sich die weltweite nukleare Kapazität bis Mitte des Jahrhunderts mehr als verdoppeln, wenn sich die Erde nicht stärker als um durchschnittlich zwei Grad Celsius erwärmen soll. Doch spätestens seit der Atomkatastrophe in Fukushima ist dieses Ziel nur noch wenigen Ländern zu vermitteln. Gelänge es jedoch, tatsächlich ausfallsichere Kernkraftwerke zu entwickeln, könnte sich die Einschätzung ändern. "Dies ist seit einem halben Jahrhundert Chinas Traum", sagt Kun Chen, einer der leitenden Wissenschaftler für das Flüssigsalzprogramm. "Jetzt können wir es schaffen."

Per VR-Brille kann man im Shanghai Institute of Applied Physics schon einmal durch den Kern eines solchen Reaktors fliegen – einem ultraheißen, hochgradig radioaktivem Ort, an den sich kein Mensch je wagen würde. Hinter mehreren Ummantelungen befindet sich der nukleare Brennstoff. Er besteht aus Zehntausenden Kugeln in Billardgröße, darin enthalten sind Partikel aus radioaktivem Material. Durch den Reaktor schlängelt sich ein ausgeklügeltes Netz von Rohren für den Transport der Flüssigkeit, die dieses System besonders macht: ein geschmolzenes Salz, das den Reaktor kühlt und die Wärme zu einer Turbine leitet, wo sie zur Stromerzeugung genutzt wird.

Das Grundprinzip ist bei allen Atomkraftwerken zwar gleich: Atome werden in einem radioaktiven Material angeregt, um eine kontrollierte Kettenreaktion auszulösen. Diese Reaktion setzt Wärme frei, sodass Dampf entsteht, der eine Turbine zur Stromerzeugung antreibt. Doch als Kühlflüssigkeit dient nicht Wasser, sondern das namensgebende flüssige Salz. Es bremst die bei der Kernspaltung frei werdenden Neutronen nicht. Solche mit Flüssigsalz gekühlten Reaktoren nutzen den Kernbrennstoff besser aus, damit ist weniger spaltbares Material nötig, man kann kleine, modulare Reaktoren bauen. Diese können bei höheren Temperaturen betrieben werden, was die Stromerzeugung effizienter macht. Zudem laufen sie bei Atmosphärendruck, brauchen also keinen teuren Druckbehälter von der Art, wie er in Tschernobyl geborsten ist.

Dafür aber gibt es neue Sicherheitsrisiken. Die erste ist politischer Natur: In derartigen Brutreaktoren lässt sich – zumindest theoretisch – waffenfähiges Plutonium herstellen. Aber auch technisch kommt einiges auf die Ingenieure zu. Die Energiedichte ist in solchen Reaktoren sehr viel höher als in konventionellen Atomkraftwerken – und damit auch die Anforderungen an das Material. Hinzu kommen die chemischen Eigenschaften der verwendeten Salze: Natrium beispielsweise reagiert heftig mit Wasser und Sauerstoff. Dass dieses Problem nicht nur theoretischer Natur ist, zeigen zahlreiche Vorfälle am experimentellen russischen Brutreaktor BN-600.

Er wurde gebaut, um Energie aus den gebrauchten Brennstäben konventioneller Meiler zu erzeugen und funktioniert ebenfalls mit flüssigem Salz. Bis 1997 gab es dort insgesamt 27 Natriumbrände. Sergey Boyarkin, ehemaliger stellvertretender Direktor des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom, erklärte jedoch, mit "baulichen Maßnahmen" hätten die Konstrukteure solche Probleme in den Griff bekommen. Auf den Testreaktor BN-600 folgte der Brutreaktor BN-800 für den Praxiseinsatz.

Mindestens genauso kritisch ist jedoch die Tatsache, dass die Kettenreaktion in natriumgekühlten schnellen Reaktoren heftiger wird, wenn sie Kühlmittel verlieren. Treten also innerhalb des Reaktorbeckens Blasen ("Void") auf, kann sich die Kettenreaktion weiter beschleunigen. Dabei steigt die Temperatur im Reaktor an, was wiederum zu einem weiteren Verlust an Kühlmittel führen kann – ein Teufelskreis, der mit einer Kernschmelze enden kann. Steigt die Temperatur zu stark, werden daher Steuerstäbe in den Reaktorkern gefahren, die genug Neutronen schlucken, um die Kettenreaktion zu stoppen.

Bei einem Flüssigsalzreaktor, wie ihn China zum Ziel hat, ist dieses Risiko geringer. Dort ist nicht nur die Kühlung, sondern auch das Brennmaterial flüssig, also das radioaktive Material in Salz gelöst. Die Gefahr einer Kernschmelze nimmt damit deutlich ab. Denn überschreitet die Temperatur im Kern eine bestimmte Schwelle, dehnt sich die Flüssigkeit aus. Weil die Dichte spaltbarer Atomkerne geringer wird, verlangsamt sich die Kernreaktion.

Der Kern kühlt ab. Um diese Eigenschaft zu nutzen, ist der Reaktor wie eine Badewanne mit einem Ablaufstöpsel am Boden aufgebaut. Wenn die Temperatur im Kern zu hoch wird, schmilzt der Stöpsel, und das Brennmaterial läuft in einen abgeschirmten Tank, meist unter der Erde. Die Kettenreaktion erlischt, und das radioaktive Brennmaterial kann gefahrlos abkühlen. Allerdings hat die Technologie auch einen gewaltigen Nachteil: Flüssigsalze sind extrem korrosiv. Wie sich Rohre und Behälter vor dem Zersetzen schützen lassen, ist noch nicht gelöst.

Die ersten Experimente mit Flüssigsalzreaktoren wurden in den 1950er-Jahren am Oak Ridge National Laboratory im US-Bundesstaat Tennessee vorgenommen, geleitet von seinem Direktor Alvin Weinberg. Er war Veteran des Manhattan-Projekts, Pionier unter den Kernphysikern und Atomkraft-Philosoph. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Energiehunger der Industriegesellschaft und der extremen Wachsamkeit, die für sichere Atomkraft erforderlich ist, beschrieb er als "faustischen Pakt". Damit Atomenergie sowohl sauber als auch extrem billig werden kann, so glaubte er, musste die Verbindung zwischen Stromproduktion und Atomwaffen gekappt werden.