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Was war. Was wird.

Was gelten die Versprechen von gestern, wenn das Morgen heute eingetreten ist? Nichts, befürchtet Hal Faber, schon gar nicht, wenn vermeintliche Game Changer nicht nur die Theorie des kommunikativen Handelns gründlich einplanieren.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Es war einmal eine kleine Agentur in einer großen Stadt, die zur Hochzeit der ersten großen Internet-Blubberei gegründet wurde, all die Bobos zu melken, die Werbung für ihre Firmen brauchten. Das Geschäft lief mal prächtig, mal weniger gut, aber man schaffte es doch, über 10 Jahre zu wachsen. Das wurde vor vier Jahren mit einer netten Party gefeiert, auf der man sich ausführlich mit diesem Web 2.0 beschäftigte. Irgendwie musste das soziale Web doch Schotter bringen und sei es nur 2,99 – mit einem ordentlich langen Schwanz (PDF-Datei für Erwachsene) kann das zu netten Einnahmen führen. Die nächsten 10 Jahre wurden mit einem Augenzwinkern angegangen. Weil die Party nett war, wurde sie zum Business, zum Kongress, auf der Redner wie Zuhörer reichlich Kohle zahlen, um zu präsentieren und zu hören. Win-Win nennt man das, wenn man gleichzeitig in zwei Geldbörsen greifen kann.

*** In diesem Jahr kam die Sache mit den Game Changers, den Hütchenspielern des Internets nicht so gut an. Wenn Ferkel fliegen könnten und auf dem iPad über die Theorie des kommunikativen Handelns räsonnieren könnten, ja, dann hätte man einen normativen Sprung gehabt, aber so blieb es halt bei La Fontaine und dem Getue von Frau Fliege:

Frau Fliege summt die ganze Reih entlang,
Muss jedem ihre Meinung in die Ohren sagen.
Nach harter Müh ist oben unser Wagen.
»Verschnaufen wir!« sagt nun das Fliegentier;
»Mein Gott, ich plagte mich bis zum Erschlaffen,
Um unsre Leute hier heraufzuschaffen.
Also, ihr Herren Pferde, was bezahlt ihr mir?«

Die Herren Pferde aber blieben stumm. Dafür finden wir eine Antwort des Veranstalters, komplett mit einem Screenshot von heisechan und den Rest der Fabel auf einer Seite toter Fische:

Ich kenne Ähnliches von vielen,
Die immer die Geschäftigen spielen.
Sie mischen sich in alle Dinge,
Als ob es ohne sie nicht ginge -
Und sind nur ungelegen überall.
Schmeißt sie hinaus mit Knall und Fall!

Rausschmiss oder Reinfall, das ist die Frage. Immerhin kam in Berlin die bis dahin größte deutsche Anhäufung von iPads zusammen, komplett mit iPhones, die nahezu jeder Teilnehmer besaß. Wer solcherartauf eine Firma fixiert ist, kann viel über das "curated computing" als Paradigma der Entwicklung schwärmen, das gerade die "walled gardens" der Geburtstagsfeier ablöst.

*** Eine Antwort gibt es nur, wenn man schaut, wo gerade die Karten neu gemischt werden. Ein Game Change der Extraklasse dürfte das Ansinnen von SAP produzieren Sybase für 6 Milliarden Dollar zu kaufen, um SAP auf dem Smartphone-Markt zu verankern. Viele der 4000 Mitarbeiter von Sybase hoffen, dass der Kaufpreis von 65 Dollar Cash für jede Aktie noch durch Oracle und IBM in die Höhe getrieben wird, damit SAP im Übernahmekampf selbst ordentlich Federn lässt. Mit dem Kaufangebot bekommen wir einen richtig heißen IT-Sommer, auch wenn es dank der Asche aus Island draußen in der Realität kalt und grau bleibt. Aber hach, auch Vulkane sind richtige Game Changer, wie es das Beispiel der Draisine zeigt, die über Pferde und Kutschen triumphierte, als es 1816 an Futter mangelte. Frau Fliege, Herr Pferd und Spezialisten für Kutschenmarketing, hübsch aufgepasst: für den Wechsel muss man die Denkrichtung ändern. Deswegen haben wir bekanntlich runde Köpfe.

*** So ein Wechsel beginnt häufig ganz unscheinbar, etwa mit der gründlich einplanierten Wiedergabe einer Theorie. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns beschäftigt sich der Internetversteher Jürgen Habermas mit dem Problem, dass kommunikative Milieus unter dem Druck "verselbstständigter Subsysteme auf dem Wege der Monetarisierung und Bürokratisierung" irreparabel zerstört werden können. Um auch mal richtig loszuplanieren: All die Errungenschaften des Internet, dass uns so glücklich macht wie ein Kräutergärtlein den Pfaffen, sind bedroht, wenn der Rubel rollt. Nun posauniert ein FAZ-Blog unter Berufung auf eben jenem Habermas neue Vorschläge für eine Politik der herrschaftsfreien Kommunikation, in der das Wort "Elternneutralität" auftaucht. Genau wie die Rede von der Netzneutralität geht es um scheinbar Progressives:

Und da es immer diejenigen Kinder ausbaden müssen, die es mit den Eltern nicht so dolle getroffen haben, ist der Gesamtgesellschaft sicher mehr gedient, wenn man den Eltern, so weit es geht, die Erziehung aus der Hand nimmt. Dann bekommt zwar nicht jedes Kind eine optimale, aber alle eine okaye und vergleichbare Erziehung.

Wer nimmt eigentlich in diesem Szenario den Eltern die Kinder "aus der Hand"? Der Staat? Der ist gerade dabei, die von schwarzgelb ausgerufene Bildungsrepublik Deutschland nach allen Regeln der Kunst zu planieren. Man schaue nur nach Hessen. Dort, wo Roland Koch die Bildungs- und die Kita-Kosten drastisch zusammenstreichen will, geht es immer um Kinder und Eltern, die es richtig dolle getroffen haben, was in diesem unseren Lande "Standard" ist an Arbeit, Häuschen, Glotze. Es geht um die etablierten Eltern, die den Bildungsvorsprung ihrer Kinder hinter dem Kürzen von Leistungen gesichert sehen. Es geht um eine ganz bestimmte Jugend, die abgekoppelt wird von der Bildung, aber auch vom selig machenden Kontrollverlust und der propagierten Ressource Ignoranz der Digital Inhabitants. Denn die, die draußen bleiben, bleiben draußen. Das hat ein Landessozialgericht in Nordrhein-Westfalen in einem unerhörten Schandurteil festgestellt, dessen Tragweite wenigen bewusst ist. Wenn ein Personalcomputer nicht zur Grundausstattung gehört, was machen wir dann mit diesem Satz, den das Bundesverfassungsgericht im Kontext von Hartz IV geschrieben hat?

Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt.

*** Verklappen wir die Ausgeschlossenen im Graben namens "Digital Divide"? Bekommen sie einmal die Woche ein iPad-Blatt vom Discounter ihrer Wahl, auf der die Netzweltnachrichten von einem großen deutschen Verlag zusammengefasst sind, der seit Wochen für Apple Werbung macht? Der Verlagschefs hat, die täglich vor dem Steve-Jobs-Altar kniend beten? Ja, so unscheinbar beginnt der Wechsel. Wo "curated computing" möglich ist, wo die Nutzer jubeln, wenn sie veräppselt werden, da ist die kuratierte Gesellschaft nicht fern – und die wird von den Interessen einer alternden Bevölkerung dominiert, die nichts mehr interessiert, was hinter einem Ereignishorizont zwanzig Jahre in der Zukunft liegt. "Yesterday you said tomorrowklagt  Christian Scott die ewig verschobenen Versprechen auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ein, die das Bürgertum mit seinen Revolutionen in die Welt gesetzt hat und heutzutage doch nicht mehr einzuhalten bereit zu sein scheint. Das könnte Scott genauso gut hierzulande tun.

Was wird.

Ein weiteres höchstrichterliches Urteil beschäftigt die Gemüter. Man kann es positiv als Schadensbegrenzung sehen, wenn absurde Haftungsansprüche bei offenen WLANs deutlich reduziert werden. Man kann aber auch bedauern, wie die digitale Gastfreundschaft infrage gestellt wird. An dieser Stelle ist eine kleine Verschwörungstheorie fällig, komplett mit dem Verweis auf den elektronischen Personalausweis, der ab November ausgegeben wird. Offene WLANs im Oberholz und anderswo werden in Zukunft weiterhin erlaubt sein, nur das Log-in wird an die Funktionen gekoppelt, die der neue Ausweis bietet. Damit befindet sich unsere Bildungsrepublik in bester Gesellschaft: Einer der ersten Staaten, die die Nutzung von öffentlichen WLANs an die Identität seiner Bürger knüpfte, war Malaysia. Am Montag erhält Premier Dato' Tun Abdul Razak auf der Weltausstellung in Shanghai einen Forenschrittspreisis der ITU, zusammen mit Robert Kahn. Das Internet macht einfach glücklich.

Manchmal klappt es nicht ganz mit dem Glücklichsein, vor allem dann, wenn Google wieder in den Schlagzeilen ist. Nun sollen die Giraffastras des Konzerns nicht nur Bilder gemacht und WLANs geplottet, sondern anbei in das Netzwerk gelauscht haben, für zwei Sekunden. Die Erklärungen von Google sind ebenso bescheuert wie die Hyperventilation nach diesem Datenskandal. Was Google wirklich wissen will von uns, das hat der Bi-Ba-Butzemann längst in sein Säcklein geworfen. Es kann nur besser werden: Sollte Google jemals seine Opel in der norddeutschen Tiefebene in Richtung unserer Einöde steuern, werde ich schützend auf dem Trecker ein Ferkel (ohne iPad) in die Kamera halten, im Namen der "Panoramafreiheit" Zur Zeit hat mein Nachbar 37 davon. Und unsere WLANs sind offen wie die Scheunentore, durch die derzeit die unterernährten Schwalben frierend taumeln. Die Brut muss dieses Jahr ausfallen. Dafür bauen die Amseln schon wieder ihr Nest im Blumenkasten auf dem Hannoveraner Balkon.

Was nicht ausfällt, ist ein Seminar zum Schutz kritischer Infrastrukturen, das in dieser Woche stattfindet, natürlich unter Beteiligung von SAP, den Spezialisten für krisenelastische Kommunikation. SAP-Lösungen auf der Basis von BusinessObjects haben den Polizeikongress beherrscht und werden uns weiterhin beschützen. Jedenfalls besser als Werder sein Tor. Was waren das noch für Zeiten, als das Logo vom WWWW im Zeichen von Werders W erstrahlen konnte. Schnüff. (jk)