Wege aus dem Stammzellen-Dilemma

Biologen haben zwei neue Techniken entwickelt, um bei Mäusen embryonale Stammzellen zu extrahieren.

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Von
  • Erika Jonietz

Biologen haben zwei neue Techniken entwickelt, um bei Mäusen embryonale Stammzellen zu extrahieren. Das Tiermodell könnte dabei helfen, den Haupteinwand gegen die medizinisch eigentlich sinnvolle Stammzellenforschung aus der Welt zu schaffen: Den "Verbrauch" menschlicher Embryonen.

Zwei verschiedene Studien, die in der vergangenen Woche unabhängig voneinander in der Online-Ausgabe von "Nature" publiziert wurden, demonstrieren, dass die Gewinnung embryonaler Stammzellen auch ohne die Tötung von Embryonen möglich ist -- zumindest bei Mäusen. Während der Ansatz der ersten Forschergruppe ohne die Zerstörung des Embryomaterials auskommt, setzt die zweite auf eine Methode, bei der Embryonen gar nicht mehr verwendet werden müssen.

Embryonalzellen interessieren die Medizin vor allem deshalb, weil aus ihnen jeder Zelltyp des Körpers entstehen kann. Man nennt diesen Zustand auch "pluripotent". Daraus ergeben sich Möglichkeiten für die Heilung zahlreicher Krankheiten - darunter so problematische Leiden wie die amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Diabetes, Krebs und Parkinson. Um Embryonalzellen zu isolieren, müssen nach aktuellem Stand der Technik allerdings zwischen drei und fünf Tage alte Embryonen zerstört werden. Die Gesetze sind dementsprechend streng - so hat US-Präsident George W. Bush angeordnet, dass Stammzellenforscher nur dann staatliche Fördermittel erhalten, wenn in ihrer Arbeit Embryonalmaterial Verwendung findet, das bereits vor dem August 2001 existierte.

US-Wissenschaftler fürchten diese Beschränkungen - sie lähme die Forschung, heißt es immer wieder. Um um das Verbot herumzukommen, wird daher beispielsweise versucht, Forschungsgelder auf Bundesstaatenebene einzuwerben. Zudem existieren Bemühungen, eine Änderung der Gesetzeslage herbeizuführen, damit Forscher künftig mit Embryonen arbeiten können, die aus der In-Vitro-Befruchtung stammen und eigentlich für die Abtötung bestimmt waren.

Zumindest das Problem mit dem US-Fördermittelstopp könnten die zwei neuen Methoden lösen. Einen Weg aus dem ethischen Dilemma rund um die Stammzellen-Problematik zeigen sie allerdings nicht, wie Forscher und Bioethiker konstatieren. Denn: Auch hier werden Embryonen letztlich gefährdet.

In der einen in "Nature" veröffentlichten Studie (Robert Lanza und Kollegen, Advanced Cell Technology, Worcester, Massachusetts) wird beschrieben, wie sich embryonale Stammzelllinien mit einer Methode herstellen lassen, die der der Präimplantationsdiagnostik ähnlich ist. Diese wird eigentlich zur Erkennung von Gen-Defekten bei für die In-Vitro-Befruchtung vorgesehenen Embryonen durchgeführt, bevor diese in die Gebärmutter eingesetzt werden.

Bei der Präimplantationsdiagnostik lassen die Ärzte die Zellteilung eines Embryonen so lange fortschreiten, bis acht Zellen entstanden sind. Eine davon wird dann entnommen, um daran Gentests vorzunehmen. Lanza, der Vizepräsident für medizinische und wissenschaftliche Entwicklungen bei Advanced Cell Technology ist, ließ dies bei Mäusen wiederholen, testete die entnommene Zelle aber nicht, sondern gab sie in eine Petrischale mit zuvor gewonnenen embryonalen Stammzellen. Dank dieser wurde die entnommene Zelle zur Zellteilung angeregt und entwickelte schließlich wie gewünscht die Charakteristik von Stammzellen.

Sobald genügend Zellen herangewachsen waren, wurden die zwei verschiedenen Zelltypen danach separiert und zu vollwertigen embryonalen Stammzelllinien entwickelt. Die verbliebenen sieben Zellen des Embryos wurden anschließend einem Mäuseweibchen eingesetzt und entwickelten sich zu normalen Mäusen. Es gab dabei keinen Unterschied zu anderen In-Vitro-Embryonen, die nicht angefasst wurden.

Es könnte allerdings mehrere Jahre dauern, bis fest steht, ob die an Mäusen getestete Methode von Lanza und Kollegen auch beim Menschen funktioniert. Sollte dem aber so sein, könnten werdende Eltern, die sowieso eine Präimplantationsdiagnostik vornehmen lassen wollten, auch gleich eine einzelne Zelle zur diagnostischen Teilung "spenden". Danach könnte eine der beiden Zellen zur Diagnose und die andere zur Herstellung einer Stammzelllinie (und damit zur Forschung) verwendet werden. "Das klinische Endergebnis würde sich nicht ändern. Ein zusätzliches Risiko für den Embryo besteht nicht", sagt Lanza.

Das Hauptziel seines Projektes: Er will seine Methode zur ersten staatlich zugelassenen Technik machen, die trotz schärferer Gesetze weiterhin staatliche Fördermittel erhalten kann. "Wir sollten mit dieser Methode innerhalb der aktuellen Gesetzeslage Stammzelllinien herstellen. Wir zerstören dabei keine Embryonen."

Es gibt allerdings auch Kritiker von Lanzas Methode. So sehen die römisch-katholischen Ethikgelehrten Lanzas Methode als wenig besser als bestehende Verfahren an. Auch die Gesetzeslage gäbe es ihrer Meinung nach nicht her.

Die Kirche ist grundsätzlich gegen die In-Vitro-Befruchtung - und die Präimplantationsdiagnostik. "Wird diese Technik beim Menschen angewendet, widerspricht das ethischen Grundsätzen", sagt Richard Doerflinger, stellvertretender Direktor für die "Pro Life"-Aktivitäten der amerikanischen Bischofskonferenz. "Es besteht das Risiko, dass Embryonen getötet werden. Schließlich wird die Diagnostik verwendet, um genetisch unvollkommene Ebryonen auszusortieren. Und selbst für die Kinder, die geboren werden, ergeben sich schon vorab unkalkulierbare Risiken."

Experten aus dem Bereich Präimplantationsdiagnostik sehen das anders: Zusätzliche Gefahren entstünden neben den bei In-Vitro-Befruchtungen sowieso vorhandenen Risiken nicht. Wird eine Zelle entfernt, sinkt die Chance, dass sich der Embryo einnistet, kaum.

Allerdings halten Experten die Lanza-Methode nicht für menschenkompatibel. "Eine einzelne menschliche Zelle wächst in einer Kultur sehr viel schwerer als Mäusezellen", meint Santiago Munne, Direktor bei Reprogenetics, einem privaten Genlabor, das sich auf Präimplantationsdiagnostik spezialisiert hat. Derzeit komme es nur in 10 bis 20 Prozent aller Versuche zur Zellteilung, wenn man mit einer einzelnen menschlichen Embryonalzelle arbeite. Teilt sich die Zelle nicht innerhalb von 24 Stunden, stirbt sie ab oder verändert sich derart, dass sich das Fenster für die Präimplantationsdiagnostik schließt.

"Wenn Sie dafür zahlen, wollen Sie auch, dass die entsprechende Diagnose vorgenommen wird. Ich würde die neue Technik also keinem meiner Patienten empfehlen." Es würde auch nichts helfen, eine weitere Zelle zu entfernen, so Munne. Tut man dies, sinkt die Verwendbarkeit um die Hälfte.

Lanza glaubt, dass die Co-Kulturen-Methode die Zellteilung verlässlicher auslöst. Er und sein Team arbeiten bereits mit ersten und in In-Vitro-Versuchen gespendeten Embryos und existierenden Stammzelllinien. Die entsprechenden Forschungsarbeiten können noch ein bis zwei Jahre brauchen. Dennoch glaubt auch Lanza nicht, dass seine Technik ganz sicher beim Menschen funktioniert: "Wir hoffen, dass wir sie beim verwenden können. Bislang kümmert sich noch fast niemand darum. "Ich würde es tragisch finden, wenn nicht all diese Optionen und Methoden genutzt werden würden, um die Patienten mit passender moderner Technologie zu versorgen."

Zu den möglichen weiteren Optionen gehört auch die zweite Methode, von der "Nature" berichtet. Sie stammt vom MIT-Biologen Rudolph Jaenisch (der auch Mitglied des Whitehead Institute ist) und seinem Studenten Alexander Meissner. Ihre Methode nennt sich "Altered Nuclear Transfer" (veränderte Kernübertragung) und verwendet eine Klon-Technik, die bereits in Korea eingesetzt wurde, um Stammzellen zu schaffen, die an bestimmte Patienten angepasst sind.

Bei der Originalmethode, die sich "Somatic Nuclear Transfer" nennt, wird das genetsche Material einer Erwachsenen-Zelle in ein Ei eingesetzt, dem eine eigene DNS fehlt. Anschließend "reprogrammiert" das Ei dann die Erwachsenen-DNS und lässt Embryonen wachsen, die die gleichen genetischen Charakteristika besitzen wie die des Spenders (Die gleiche Technik wurde auch bei Dolly, dem ersten geklonten Säugetier und zahlreichen anderen Klonverfahren verwendet.)

2002 schlug William Hurlbut, ein Medizinethiker an der Stanford University (und Mitglied im präsidialen Rat für Bioethik) vor, diese Technik so abzuwandeln, dass man über sie Stammzellen ohne die Schaffung menschlicher Embryonen gewinnen könnte. Hurlbuts Idee enthielt mehrere Vorschläge - so ließe sich etwa der Zellkern der Erwachsenenzelle, das Zellplasma des Eies oder gar beides verändert werden, damit erst gar kein Embryo entsteht. Sollte das den Forschern gelingen, wäre dies laut Hurlbut eine "echte Win-Win-Situation. Kein Kompromiss, sondern eine Lösung".

2004 schlug Hurlbut vor, ein Gen namens CDX2 auszuschalten, das im Frühstadium der Embyronalentwicklung zum Einsatz kommt und für die Ausformung einer Plazenta und das Einnisten in die Gebärmutter verantwortlich sein soll. Damit könne es möglich sein, die Erzeugung funktionsfähiger Embryos zu unterbinden. In "Nature" schreiben Meissner und Jaenisch nun, dass das Ausschalten von CDX2 im Zellkern der Spenderzelle vor dem Transfer der entkernten Eizelle dazu führte, dass sich der Embryo nicht richtig entwickelte. Eine normale embryonale Stammzellenlinie ließ sich aber dennoch erzeugen. "Was wir dabei erhalten, ist ein Klon, der keine Chance hat, sich jemals in einen Fetus zu entiwckeln. Trotzdem sind embryonale Stammzellen weiterhin erzeugbar", so Jaenisch.

Hurlbut hält Jaenischs Arbeit für wertvoll: "Sie zeigt, dass die Technik wissenschaftlich durchsetzbar ist." Hurlbut glaubt, dass CDX2 sogar extrem spät zum Einsatz kommt - beispielsweise im Achtzellen-Stadium eines Mäuseembryos. Deshalb dürfe man diese Gebilde nicht "Emryos" nennen. Viele Forscher widersprechen dem aber.

"Das ethische Problem ist auch dadurch nicht gelöst, sagt Nigel Cameron, Vorsitzender des Center for Bioethecs and Culture. "Auch ein deformierter Embryo ist ein Embryo." Das Gesamtkonzept des "Altered Nuclear Transfer" wird damit allerdings nicht negiert - Forscher könnten sich andere oder auch zusätzliche Gene ansehen, die bei der Erstellung von Stammzellen ohne Embryos helfen könnten.

Tadeusz Pacholczyk, katholischer Priester mit einem Doktortitel in Neurobiologie, der Bildungsdirektor am National Catholic Bioethics Center ist, stimmt dem zu: "Ich freue mich über Jaenischs Arbeit. Ich bin zwar nicht davon überzeugt, dass es das Problem löst, aber die Arbeit zeigt in eine hoffnungsvolle Richtung, die die Wissenschaft in Zukunft nehmen könnte."

Der nächste Schritt sei es nun, statt einzelner Gene eine ganze Kombination zu ändern - bis schließlich gar kein Embryo mehr entsteht. Pacholczyk hält hier beispielsweise den Ansatz von Markus Grompe, einem Stammzellenforscher an der Oregon Health Sciences University, für interessant. Dabei werden keine Gene abgeschaltet, um die Embryonalentwicklung zu stoppen. Stattdessen will Grompe die Spenderzellen dazu bewegen, eine oder mehrere Transkriptionsfaktoren zu produzieren, die nur in embryonalen Stammzellen stecken. Diese Proteine bestimmen die Aktivitäten Hunderter von Genen, die die Zellen davon abhalten, sich in spezifische Zelltypen umzuwandeln. Auch die Eizelle könnte dazu gebracht werden, diese Proteine zu generieren. Grompe würde dann der gewohnten "Nuclear Transfer"-Technik folgen, also den Zellkern der Spendezelle in das Ei ohne Zellkern einführen. Das Endergebnis wäre eine pluripotente Stammzelle, die niemals ein embryonales Stadium durchlebt hätte,

Auch Hurlbut hält die Ideen von Grompe für interessant. CDX2 funktioniere, sei aber nur ein Beginn. "Wir befinden uns am Anfang eines konstruktiven Gesprächs. Wir werden einen gemeinsamen Dialog führen müssen und schauen, ob wir eine Basis finden, um dann zu einer allgemein akzeptablen Definition von Begriffen wie "Embryo", "Organismus" und "Mensch" gelangen. Wenn wir das nicht tun, wird es eine Schlacht nach der anderen geben."

Evan Snyder, Direktor des Stammzellenprogrammes am Burnham Institute in La Jolla, Kalifornien, arbeitet bereits in der Vergangenheit mit Hurlbut und teilt dessen Hoffnungen, einen Kompromiss finden zu können. "Unsere Hypothese ist, dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft das Bemühen um Konsens lohnt." Selbst wenn die beiden neuen Methoden nicht bei menschlichen Zellen angewandt werden können oder die Kritiker nicht befriedigen, sei kein Experiment nutzlos. "Während wir versuchen, Zellen auf eine andere Art zu gewinnen, können wir sogar noch etwas lernen."

Andere Forscher und Bioethiker sind skeptischer: Sie glauben nicht daran, dass das ständige Hin und Her zwischen Befürwortern und Gegner der Stammzellenforschung irgendwann aufhört - die Beteiligten sind wie gefangen. Weder Lanzas noch Jaenischs Ansatz löse das moralische Dilemma, meint Sean Philpott, ein Forschungsmikrobiologe beim Gesundheitsministerium des Bundesstaates New York und Chefredakteur des "America Journal of Bioethics". "Das ist wissenschaftliches Hin-und-Her-Gewinke. Wir stecken soviel Zeit und Mühe in den Prozess, eine Lösung für alle Seiten zu finden. So finden wir aber gar keine Lösung."

Philpott glaubt an ein radikaleres Modell: "Wir müssen einfach akzeptieren, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung moralisch gegen die Forschung mit embryonalen Stammzellen ist. Das bedeutet aber nicht, dass wir sie nicht verfolgen sollten." (wst)