Immuntherapie: Armee der Mutanten

Chinesische Mediziner haben erstmals die Genschere CRISPR am Menschen ausprobiert. Der Schritt dürfte die Entwicklung von neuartigen Immuntherapien gegen Krebs deutlich voranbringen.

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Von
  • Tobias Stolzenberg
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Doch kein Medizin-Nobelpreis? Nicht wenige Beobachter hatten damit gerechnet, dass die angesehene Auszeichnung 2016 an die Entdecker des Gen-Editiersystems CRISPR-Cas9 gehen würde, das seit 2012 für Begeisterung in der Welt der Wissenschaft sorgt. Doch die Wahl fiel wieder nicht auf CRISPR. Was daran gelegen haben dürfte, dass zwei Gruppen darüber streiten, wem eigentlich die Ehre für die Entdeckung gebührt – unter anderem geht es um Patente und potenzielle Milliardeneinnahmen, sodass sich das Nobelpreis-Komitee offenbar vorerst zurückhalten will.

Der enormen Bedeutung, die das neue Verfahren gerade auch für die Medizin hat, tut das allerdings keinen Abbruch. Und während in den USA, in Großbritannien oder in Deutschland die öffentlichen Debatten um die Technologie noch in vollem Gange sind, haben chinesische Wissenschaftler Ende Oktober 2016 kurzerhand Fakten geschaffen – wieder einmal, möchte man sagen: Im zentralchinesischen Chengdu spritzten sie einem todkranken Krebspatienten genetisch veränderte Immunzellen in den Körper. Verändert mittels CRISPR-Cas9.

Zwar sind die chinesischen Forscher damit die Ersten, die das CRISPR-Verfahren am und im Menschen einsetzen. Doch sie werden nicht die Einzigen bleiben. Auch Carl H. June von der University of Pennsylvania will CRISPR in die klinische Praxis bringen: Anfang 2017 möchte er bei 18 Patienten Zellen entnehmen, mittels Gene Editing modifizieren und dann zurück in den Körper bringen – um dort den Krebs zu bekämpfen.

Wie die Versuche in China baut auch die Studie von June auf eine der derzeit größten Hoffnungen im Kampf gegen Krebs: die sogenannten Immuntherapien. "Behandelt wird dabei nicht der Tumor selbst, sondern das Immunsystem", erklärt der Arzt und Immunologe Harald zur Hausen, der 2008 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Anstatt wie bisher die Krebszellen mit Zellgiften oder Röntgenstrahlen zu attackieren, versetze man das Immunsystem in die Lage, selbst gegen den Krebs vorzugehen. Zur Hausen, der sich sonst eher zurückhaltend äußert, spricht von einem echten Paradigmenwechsel.

Schon vor CRISPR forschten Wissenschaftler intensiv an derartigen Immuntherapien. Aber dank der Genschere haben sie nun ganz neue Möglichkeiten. Die Technik verringert viele der Probleme, mit denen sich die Molekularbiologen in den letzten Jahren herumschlagen mussten, enorm. Mit dem Verfahren lässt sich präzise, einfach und kostengünstig der genetische Bauplan von Zellen verändern. Forscher können komplette Gene in die Erbsubstanz einführen oder andere herausschneiden, Gene stilllegen oder gezielt aktivieren. Benötigt ein Wissenschaftler dafür künstliche DNA-Moleküle, bestellt er die erforderliche Sequenz via Internet bei einem entsprechenden Dienstleister – die gewünschte Probe kommt per Post oder Kurier direkt in sein Labor.

Gleichzeitig können Wissenschaftler und Ärzte dank modernster DNA-Sequenziertechnologien heute das Genom eines Tumors mitsamt seiner Metastasen quasi über Nacht auslesen. Auch neue Methoden der Tumoranalyse dürften ihren Teil zur rasanten Weiterentwicklung der Krebs-Immuntherapien beitragen. Denn je müheloser und genauer sich das Genom entziffern lässt, desto einfacher wird es, Krebs zu identifizieren und zielgenau dagegen vorzugehen.

Die Hoffnungen ziehen mittlerweile sogar große Geldgeber an. Mit einigem medialen Nachhall kündigte der Internet-Milliardär Sean Parker 2016 an, über seine Stiftung 250 Millionen Dollar in Immuntherapie-Studien zu stecken. Sein Geld hatte Parker unter anderem mit der Musiktauschbörse Napster verdient. Nun gründete er das Parker Institute for Cancer Immunotherapy, an dem sich sechs wichtige US-Krebszentren beteiligen. Ziel des neuen Instituts ist es, die Entwicklung von bahnbrechenden Immuntherapien voranzutreiben – unter anderem die von June an der University of Pennsylvania.

Studienleiter Carl June jedenfalls ist überzeugt davon, dass CRISPR die Krebs-Immuntherapien gewaltig voranbringen wird. Dass es nicht seine Arbeitsgruppe ist, die das CRISPR-Verfahren als Erste an den Patienten bringt, nimmt er eher sportlich. "Es ist wie ein Wettrennen zwischen China und den USA, ein biomedizinisches Duell." Das sei in Ordnung, findet June: "Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft. Und wenn dann am Ende ein gutes Ergebnis steht, ist das umso besser."

Grund zur Gelassenheit hat der Professor für Immunologie allemal. Schließlich gilt er als einer der Begründer der Krebs-Immuntherapien und setzt schon seit Jahren modifizierte Immunzellen seiner Patienten als hochpräzises Therapeutikum ein – bisher vor allem bei Kindern, die an bestimmten Formen der Leukämie erkrankt sind. Aus ihrem Blut fischt er T-Zellen und rüstet sie im Labor mit einem sogenannten chimären Antigen-Rezeptor, kurz CAR, auf. "Dieser Rezeptor ist nichts anderes als ein Molekül, das einem Antikörper ähnelt und Krebszellen an einer bestimmten Oberflächenstruktur erkennt", erklärt June. Der Immunologe vermehrt die veränderten Zellen im Labor und gibt sie dem Patienten nach zwei bis drei Wochen wieder zurück. Dort patrouillieren sie als Tumorjäger durch den Körper. Finden sie eine Krebszelle, zerstören sie diese. Bei einigen seiner Patienten kam es dank dieser Gentherapie tatsächlich zu einer vollständigen Kontrolle der Leukämie, längst aber nicht bei allen.

CRISPR soll nun den entscheidenden Schritt nach vorn bringen. June will den T-Zellen seiner Patienten nicht mehr nur das künstliche CAR-Protein verpassen, sonderen mithilfe der Genschere zusätzlich zwei Gene aus ihrer DNA herausschneiden. Eines davon – das gleiche, das die chinesischen Forscher ausschalten – ist für ein sogenanntes Checkpoint-Protein verantwortlich, das andere für ein allgemeines Oberflächenmerkmal der T-Zellen. "Damit lösen wir gewissermaßen die Bremsen eines blockierten Immunsystems", beschreibt June die Strategie. "Unsere Laborversuche zeigen, dass wir die CAR-T-Zellen auf diese Weise noch leistungsfähiger machen können."

Während also die chinesischen Wissenschaftler lediglich ein einziges Gen lahmlegen, setzt Junes Gentherapie an nicht weniger als drei Zielpunkten an und ist damit deutlich anspruchsvoller. Wenn die klinischen Studien gut verlaufen, möchte June diese erweiterte CAR-Therapie möglichst bald auch bei weiteren Tumorarten wie Bauchspeicheldrüsenkrebs oder Hirntumoren und damit bei deutlich mehr Patienten einsetzen.

Noch müssen allerdings die Aufsichtsbehörden – allen voran die US-Arzneimittelbehörde FDA – das Projekt genehmigen. Dort ist man extrem vorsichtig, schließlich handelt es sich um vollkommen neue Formen der Gentherapie. Schon die CAR-Therapie an sich ist eine riskante Sache: Bei manchen Patienten werden durch einen sogenannten Zytokinsturm innerhalb weniger Tage gleich pfundweise Leukämiezellen vernichtet, was heftiges Fieber und Organversagen bis hin zum Tod auslösen kann. Diese heikle Behandlung wollen die Krebsforscher nun obendrein mit einer weiteren Immuntherapie und einer am Menschen noch nicht erprobten gentechnischen Methode kombinieren. Kein Wunder also, dass die Kontrolleure genau hinschauen. Trotzdem hat sich das Recombinant DNA Advisory Committee der US Institutes of Health, ein wichtiges Gremium für Fragen von Biosicherheit und Ethik, bereits fast einstimmig hinter das Vorhaben gestellt.

Mittels CRISPR verbesserte Therapien sind jedoch nicht der einzige Ansatz, der 2016 große Hoffnungen geweckt hat. Im Juni wurde bekannt, dass Wissenschaftler des Mainzer Unternehmens BioNTech zusammen mit anderen Forschergruppen eine hochpotente therapeutische Krebsimpfung auf RNA-Basis entwickelt haben, eine sogenannte Neoepitop-Impfung. Das neue Verfahren, bei dem auch Nanopartikel verwendet werden, könne bei nahezu allen Arten von Tumoren eine hochwirksame Immunantwort gegen Krebs auslösen, wie die Krebsforscher um Ugur Sahin von der Universität Mainz im Fachmagazin Nature schrieben. Der Krebsimpfstoff gibt dem Immunsystem dabei exakte Informationen zu den Oberflächenstrukturen der Tumorzellen, wodurch die körpereigene Abwehr gegen sie mobilisiert wird. Besonders faszinierend: Jeder Patient bekommt seinen eigenen Impfstoff, der nur für ihn hergestellt wird – eine personalisierte, maßgeschneiderte Therapie.

Wie Sahin zu bedenken gibt, befindet sich diese neuartige Krebs-Immuntherapie in einem sehr frühen Stadium. Erst drei Menschen seien damit behandelt worden, ausnahmslos Melanompatienten. Trotzdem sieht er Anlass zur Hoffnung: "Die ersten Daten zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind und optimistisch sein dürfen." Ähnlich sieht man das offenbar bei Genentech: Nach der Erfolgsmeldung vereinbarte das Tochterunternehmen des Schweizer Pharmakonzerns Roche im Herbst eine strategische Partnerschaft mit BioNTech. Wenn alle Meilensteine erreicht werden, kann sich das Spin-off der Universität Mainz über Zahlungen von 310 Millionen Dollar freuen.

Noch vor wenigen Jahren hätten Immunologen und Mediziner kaum zu träumen gewagt, dass Krebs-Immuntherapien einmal so erfolgreich sein würden. Allmählich aber scheint sich die jahrzehntelange Grundlagenforschung an mehreren Fronten auszuzahlen. Natürlich ist Krebs, eine der häufigsten Todesursachen weltweit, deren Bedeutung obendrein weiter zunimmt, längst nicht besiegt. Doch 2016 ist die Medizin diesem Ziel ein ansehnliches Stück näher gekommen. (jle)