Kommentar: Funktioniert das Greenwashing für Atomkraft?

Warum die EU Atomkraft tatsächlich als "nachhaltige Technologie" einstufen will, und was Experten davon halten.

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(Bild: Pavel Ignatov/Shutterstock.com)

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Der Streit spitzt sich zu: Im Januar 2022 will die EU Regeln und Kriterien für "nachhaltiges Wirtschaften" in Kraft setzen. Die "Taxonomie" gilt als wichtiges Element im "Green New Deal" und soll Investorengelder in Richtung Klimaschutz lenken. Frankreich nutzte die Initiative jedoch, um sich im Bündnis mit osteuropäischen Staaten auch Fördergelder der EU für Atomkraft zu sichern. Jetzt mehren sich die Zeichen, dass diese Strategie tatsächlich aufgeht: Ende Oktober gab Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekannt, in der Taxonomie würden Atomkraft und für eine Übergangszeit auch Erdgas berücksichtigt. Vor kurzem sickerte zudem ein entsprechender Formulierungsvorschlag der Kommission durch.

Ein Kommentar von Wolfgang Stieler

Nach dem Studium der Physik wechselte Wolfgang Stieler 1998 zum Journalismus. Bis 2005 arbeitete er bei der c't, um dann als Redakteur der Technology Review zu wirken. Dort betreut er ein breites Themenspektrum von Künstlicher Intelligenz und Robotik über Netzpolitik bis zu Fragen der künftigen Energieversorgung.

Die Atomkraft-Befürworter stützen sich im Wesentlichen auf ein Gutachten der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der EU. In diesem kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass die Energieerzeugung durch Atomkraft "keinen wesentlichen Schaden" im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftens erzeugen würden. Dieses "do no significant harm"-Prinzip ist ein ganz wesentliches Schlüsselkriterium für Nachhaltigkeit im Sinne der Taxonomie. Demnach muss eine wirtschaftliche Tätigkeit einen wesentlichen Beitrag zu einem Umweltziel wie etwa Klimaschutz leisten, ohne dabei zu einer "wesentlichen Beeinträchtigung" anderer Umweltziele zu führen.

Frankreichs Präsident Macron fühlt sich von der EU-Position offenbar ermutigt und kündigte erst vor kurzem die Entwicklung kleiner, modularer Reaktoren an – ein Konzept, das auch in den USA seit einigen Jahren massiv gefördert wird. In Großbritannien zeigt sich eine ähnliche Richtung: Dort teilte die Rolls-Royce Group mit, "Small Modular Reactors" (SMR) bauen zu wollen. Solche "Mini-AKWs" sollen billiger und vor allem sicherer als die alten Atomkraftwerke für CO2-freien, verlässlichen Strom sorgen – und so im Kampf gegen den Klimawandel helfen. Selbst das IPCC setzt dabei auf Atomkraft. Muss die Atomenergie im Licht all dieser Entwicklungen also vielleicht doch neu bewertet werden?

Klima-Sonderheft von Technology Review

Die Atomkraft-Experten des Öko-Instituts Darmstadt geben der Atomlobby in einem umfangreichen Gutachten zu kleinen, modularen Reaktoren allerdings wenig Anlass zu Hoffnung. Zwar sei es extrem schwierig, das Konzept allgemein zu bewerten, denn es gäbe ja noch nicht einmal eine allgemeingültige Definition für solche Reaktoren, und die technischen Konzepte, die darunter fallen, sind extrem divers. Die Autoren fanden jedoch bislang keine Belege dafür, dass Standardisierung und Modularisierung bei solchen Reaktoren tatsächlich zu der gewünschten Kostensenkung führt.

Viele der angeblich extrem innovativen Konzepte wie Schmelzsalz- oder heliumgekühlte Reaktoren sind zudem grundsätzlich nicht neu – eine ganze Reihe dieser Konzepte haben bereits in Testreaktoren gravierende Probleme gezeigt. Ein prinzipielles Problem mit natriumgekühlten Reaktoren besteht beispielsweise darin, dass Natrium nicht mit Wasser in Kontakt kommen darf – weil es sonst heftig reagiert. In Kugelhaufenreaktoren dagegen gab es immer wieder Probleme mit beschädigten Brennstoff-Kugeln. Die Befürworter der neuen Reaktorkonzepte argumentieren zwar, dass es in den vergangenen 30 Jahren große Fortschritte bei Werkstoffen und der Berechnung der Reaktorkonstruktion im Computer gegeben hat. Ob das wirklich ausreicht, bliebe abzuwarten.

Um mit Hilfe von kleinen Reaktoren eine flächendeckende Energie-Grundversorgung aufzubauen, müssten zudem zehntausende solcher Anlagen gebaut werden – was massive staatliche Subventionen erfordern würde. Ein grundsätzliches Problem dabei klammert zudem auch die "neue Atomindustrie" aus: den radioaktiven Müll. Den Anteil der Atomenergie weltweit massiv zu vergrößern, würde auch dieses – ungelöste – Problem noch einmal verschärfen.

Genau da sieht auch das Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) den Knackpunkt. In einem Gegengutachten zum GFS-Papier kommen die Experten des BASE nicht nur zu dem Schluss, dass zahlreiche Themenbereiche mit hoher Umweltrelevanz "reduziert dargestellt bzw. ausgespart" würden. Als besonders schwerwiegend mahnen die BASE-Experten an, "dass das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle bereits durch frühere Generationen auf heute verschoben wurde und zwangsläufig vielen weiteren Generationen erhalten bleiben wird". Das Prinzip "no undue burdens for future generations" sei damit "bereits (nicht heilbar) verletzt." Dass dieses Argument keineswegs rein formal und damit zahnlos ist, zeigen diverse Klima-Urteile in denen "ungerechte Belastungen" für zukünftige Generationen als unzulässig zurückgewiesen wurden.

(wst)